Mut auf Samtpfoten
Erzählung
Im Kurs “Schreiben und Sprechen” setzten wir uns mit verschiedenen narrativen und künstlerischen Textgattungen auseinander. Zum Thema “Wendepunkt” entwickelte ich eine Erzählung, die von einem Jungen und seiner tiefen Verbundenheit zu einem roten Kater handelt.
Epik – Erzählung
Mut auf Samtpfoten
Jonathan sitzt mit Milo auf der Wiese vor seinem Wohnblock. Erste Blumen blühen und Frühlingsduft liegt in der Luft. Eine Biene versucht sich am Nektar eines Gänseblümchens und die Vögel zwitschern ihre schönsten Lieder. Jonathan streicht über das flauschige Fell von Milo. Sein Fell glänzt orange getigert in der Sonne und fühlt sich weich und warm an. Ein leises, gleichmässiges Schnurren ist zu hören.
«Milo, weisst du noch, als ich dich vor langer Zeit getauft habe? Da habe ich dir solche Gänseblümchen aufs Fell gelegt und dich Milo getauft.» Jonathan hält Milo ein Gänseblümchen vor die Nase.
«Es weiss ja niemand, wo du wohnst und wie du richtig heisst, aber ich finde, Milo passt richtig gut zu dir.»
Jonathan krault Milo zwischen den Ohren.
«Nach den Sommerferien komme ich schon in die dritte Klasse», sagt Jonathan. Milo schnurrt ein wenig lauter und schaut Jonathan mit seinen warmen, gutmütigen Augen an.
«Weisst du, heute haben die anderen in der Klasse wieder über mich gelacht. So schlimm wie heute war es noch nie», Jonathans Stimme zittert. «Ich musste vorlesen und du weisst ja, mir kommen immer alle Buchstaben durcheinander.» Eine Träne kullert über Jonathans Wange. Jonathan vergräbt sein Gesicht in Milos Fell. Es fühlt sich tröstlich an und riecht ein wenig nach Rasen. Jonathan spürt das gleichmässige Heben und Senken von Milos Brustkorb. Nach einer Weile setzt er sich wieder auf. Milo dreht sich auf den Rücken und streckt sich. Jonathan krault ihn am Bauch.
«Weisst du, wir müssen in der Schule einen Vortrag über unser Lieblingstier halten. Ich glaube, ich mache meinen Vortrag über dich.» Milo schnurrt laut und streckt seinen Kopf nach hinten, damit Jonathan ihn auch unter dem Kinn kraulen kann.
Die Glocke des nahegelegenen Kirchturms läutet sechsmal.
«Milo, die Glocken läuten, ich muss nach Hause. Bis morgen!»
Jonathan streichelt Milo noch ein letztes Mal liebevoll über den Kopf. Am nächsten Tag geht Jonathan nach der Schule wie so oft direkt zur Wiese vor seinem Wohnblock. Er möchte Milo unbedingt die Karton-Maus zeigen, die er heute in der Schule gebastelt hat.
«Milo, Milo, schau mal», ruft Jonathan, als er bei der Wiese ankommt. Jonathan bleibt stehen und schaut sich suchend um.
«Milo, wo bist du? Hast du dich versteckt? Warte, ich finde dich schon», ruft Jonathan lachend. Einmal hatte sich Milo im Gebüsch neben dem grossen Baum versteckt. Jonathan beschliesst, dort nachzusehen. Er schiebt mit seinen Händen die Äste vorsichtig auseinander und späht in das Gebüsch. Milo ist nicht da. Sicherheitshalber wandert Jonathans Blick noch den grossen Baum hinauf. «Ich weiss, Milo, du kletterst nie auf Bäume, aber ich möchte dich nicht übersehen.» Da kommen Jonathan die Steinplatten in den Sinn. «Milo, ich glaube ich weiss, wo du bist. Du liegst doch immer so gerne auf den Steinplatten, die von der Sonne so schön warm werden.» Jonathan macht sich auf den Weg zu den Steinplatten. Schon von weitem sieht er aber, dass Milo nicht dort ist. Eine leichte Panik steigt in ihm auf. Hoffentlich ist ihm nichts passiert, denkt Jonathan besorgt. Hastig rennt er zurück zur grossen Wiese. «Milo, wo bist du?», flüstert Jonathan unglücklich. Jonathan setzt sich auf den Rasen und wartet. «Milo, ich warte hier auf dich, bis du kommst», sagt Jonathan.
Die Glocke des nahegelegenen Kirchturms läutet sechsmal. Jonathan laufen Tränen übers Gesicht. «Milo, bitte komm morgen zu unserer Wiese, ich brauche dich», flüstert Jonathan verzweifelt. Er wischt sich mit der Hand die Tränen vom Gesicht, nimmt seine Karton-Maus und geht traurig nach Hause.